H. Haumann: Die Akte Zilli Reichmann

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Titel
Die Akte Zilli Reichmann. Zur Geschichte der Sinti im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Haumann, Heiko
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 24,00
URL
von
Helena Kanyar Becker

Die bewegende Lebensgeschichte der Sintiza, der Sintifrau, Zilli Reichmann (*1924), schildert der Autor im Rahmen der Sozial- und Kulturgeschichte der ethnischen Minderheit der deutschsprachigen Sinti. Heiko Haumann definierte während seiner ersten Begegnung mit Zilli Reichmann im September 2014 die korrekte Terminologie. Zilli und ihre Verwandten empfinden sich als Zigeunerinnen und Zigeuner. Wenn dieser Begriff pejorativ benutzt wird, setzt ihn Haumann in Anführungszeichen, sonst verwendet er die Verbindung Sinti und Roma.

Die Familie Reichmann wanderte zwischen Thüringen, Sachsen, Bayern und Westböhmen, woher sie ursprünglich stammte. Dort in Eger (Cheb) gebar Zilli im Mai 1940 ihre Tochter Gretel, die den Taufnahmen Ursula erhielt. Die Sinti und Roma tragen neben dem offiziellen Vornamen einen Rufnamen, auch Zilli wurde Cäcilia getauft. Ihre Familie war katholisch, verehrte jedoch ihre Ahnen, die sogenannten Mulos, und lebte entsprechend dem traditionellen Brauchtum. Da der Vater ein Wanderkino betrieb, wurde die Familie in den Dörfern freundlich aufgenommen. Mit dem gesetzlichen Antiziganismus wurde sie in der Weimarer Republik kaum konfrontiert.

Einen kruden Wechsel brachten die nationalsozialistische Machtergreifung von 1933 und die Nürnberger Rassengesetze von 1935. In Berlin wurde die «Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle» eingerichtet, die mit der Kriminalpolizei eng verbunden war. Zu den Vorbildern des Forschungsleiters Robert Ritter zählten die Zürcher Eugeniker Auguste Forel und Eugen Bleuler, bei denen er als Oberarzt von 1931 bis 1932 Erfahrungen gesammelt hatte. Nach 1933 teilte er Sinti und Roma in pseudowissenschaftliche Kategorien ein, nach denen etwa 90% sogenannte «Zigeunermischlinge» bildeten, die als «asozial und arbeitsscheu» charakterisiert wurden. Ritters Stellvertreterin, Eva Justin, die von ihren Opfern Loli Tschai (rothaariges oder bösartiges Mädchen) genannt wurde, verfasste eine Dissertation zu diesem Thema. Circa 30‘000 deutsche und österreichische Sinti und Roma wurden gemäss den genetischen und genealogischen Gutachten der Rassenhygieniker ab Frühjahr 1938 in Konzentrationslager deportiert.

Die Familie Reichmann flüchtete 1941 ins Elsass, um sich vor den Massnahmen zur «Bekämpfung des Zigeunerwesens», die vergleichbar mit den antijüdischen Gesetzen waren, zu retten. Zilli wurde jedoch zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Otto und zwei Cousinen am 8. Juli 1942 in Strassburg verhaftet. Ihr Leidensweg durch verschiedene Gefängnisse endete im November im «Zigeunerarbeitslager» Lety in Südböhmen. Von dort wurden sie mit den tschechischen Sinti nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Nach ihrer Ankunft am 11. März 1943 trafen sie im neu eingerichteten «Zigeunerlager» ihre Grossfamilie wieder.

Heiko Haumann berichtet detailliert über die Geschichte und Strukturen dieses Lagers. Er zeichnet Porträts der SS-Leute und der «Funktionshäftlinge», denen prominente Hilfsaufgaben in der Lagerhierarchie oblagen. Ein Kapitel widmet er dem berüchtigten Arzt Josef Mengele.

Der «Lagerälteste» Hermann Dimanski, ein Kommunist und Spanienkämpfer, verliebte sich in die schöne Zilli. Er gehörte zur politischen Widerstandsorganisation, die Häftlinge unterstützte und er half auch der Familie Reichmann. Dimanski bewirkte, dass Zilli, ihr Bruder Otto und eine Cousine mit anderen arbeitsfähigen Häftlingen am 2. August 1944 Auschwitz verlassen konnten. In der folgenden Nacht wurden alle 2‘897 Inhaftierten des «Zigeunerlagers» ermordet, auch die Familie Reichmann. Der erste Versuch, dieses Lager zu liquidieren, war am 16. Mai desselben Jahres am verzweifelten Widerstand der Sinti und Roma gescheitert.

Zilli und ihre Cousine Tilla wurden ins KZ Ravensbrück deportiert, dann in ein Aussenlager des KZ Sachsenhausen, wo sie in der Rüstungsindustrie arbeiteten. Dort verhalf ihnen ein Zivilarbeiter am 24. Februar 1945 zur Flucht. Es gelang ihnen, zu ihrem Onkel in Berlin-Marzahn zu flüchten und von dort unter falschen Namen weiter nach Niederösterreich. Nach dem Krieg kehrte Zilli nach Deutschland zurück und heiratete einen überlebenden Sinto, den Musiker Anton Schmid. 1988 trat Zilli auch als Zeugin in einem Prozess über das «Zigeunerlager» auf.

Heiko Haumann beschreibt die absurden Probleme bei den Entschädigungsverfahren in der BRD. Die Gerichte stützten sich bis in die 1960er Jahre auf die rassenhygienischen Gutachten und ihre diskriminierenden Vorurteile gegenüber «Zigeunern». Zilli und Anton Schmid mussten bis Ende der 1970er Jahre kämpfen, um eine Entschädigung und normale Rente zu bekommen. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch die Organisationen der Sinti und Roma, die sich für die Rechte der Überlebenden einsetzten. Haumann berichtet in seinem sorgfältig recherchierten Buch aber auch über die positive Tätigkeit der Stadtbehörden und Vereine, die sich für die Integration der Sinti und Roma engagieren, zum Beispiel in Freiburg im Breisgau.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Rezension zu: Heiko Haumann: Die Akte Zilli Reichmann. Zur Geschichte der Sinti im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 409-411.